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Historisches Schriftstück

Impfungen und Infektionsschutz in der Nachkriegszeit in Oesselse

Die Schüler sind im Unterricht auf die Notwendigkeit allgemeiner und körperlicher Hygiene wiederholt hinzuweisen (z.B. gründliches Händewaschen nach jeder verrichteten Notdurft und vor jedem Essen; Genuss nur gewaschenen Obstes usw.)

Der Umgang mit Infektionskrankheiten in Oesselse nach dem Zweiten Weltkrieg soll exemplarisch anhand dreier in dieser Zeit besonders verbreiteter Krankheiten nachgezeichnet werden. Die Bekannteste dürften die Pocken sein, die auch Blattern genannt wurden und die Menschheit schon seit Jahrtausenden immer wieder heimgesucht haben. Typisches Anzeichen dieser sehr ansteckenden Viruskrankheit sind die eitrigen Blasen auf der Haut. Mit dem Kampf gegen die Pocken begann auch die Geschichte des Impfens. Am 14. Mai 1786 infizierte der englische Arzt Edward Jenner einen Jungen mit Kuhpocken. Zu diesem Zeitpunkt, Ende des 18. Jahrhunderts, grassierten die Pocken wieder einmal verheerend. Jenner wollte dem ein Ende setzen. Und tatsächlich: diese erste moderne Schutzimpfung ist ein Meilenstein, denn das Kind war nun gegen die Menschenpocken immun. Jetzt gab es erstmals eine wirksame Impfung gegen eine Seuche, der man lange schutzlos ausgeliefert war. In einigen Regionen wurde die Impfung gegen die Blattern zur Pflicht. 1807 führte Bayern als weltweit erstes Land eine Impflicht ein. Unter Reichskanzler Otto von Bismarck entstand 1874 ein Gesetz, das die Impfung für das gesamte Deutsche Reich vorschrieb. Zuvor waren im gesamten Reich im Jahre 1871 knapp 200.000 Menschen an einer schweren Pocken-Epidemie gestorben.

Die Pocken-Impfpflicht galt auch 1948 noch. In einem Schreiben informierte das Gesundheitsamt des Landkreises Hildesheim-Marienburg am 30.8.1948 die Gemeinde Oesselse über die Durchführung der diesjährigen öffentlichen Schutzpockenimpfung. Der Impfpflicht unterlagen Kinder im Alter von einem und zwölf Jahren. Demnach waren 1948 die sog. „Erstimpflinge“ aus dem Jahrgang 1947 und die „Wiederimpflinge“ aus dem Geburtsjahrgang 1936 dran. Genesene Kinder, die die natürlichen Pocken überstanden hatten, waren nicht impfpflichtig, mussten dies aber nachweisen. Verantwortlich für die Vorstellung der Kinder beim Impftermin waren die Eltern oder die Erziehungsberechtigten. Bei Nichtantreten folgten Konsequenzen: „Impfweigerungen werden nach den Bestimmungen des Reichsimpfgesetzes vom 8.4.1874 mit Geldstrafe bis zu fünfzig Reichsmark oder mit Haft bis zu drei Tagen bestraft.“ Zur Vorbereitung der Impfung sollte die Gemeinde Oesselse Impflisten ausfüllen. Am Impftermin mussten der Gemeindedirektor und ein Lehrer teilnehmen. Der Gemeindedirektor hatte „für Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung zu sorgen.“ Die Impfung wurde schließlich am 17.9.1948 durchgeführt. Rund 20 Jahre später begann die Weltgesundheitsorganisation eine Kampagne gegen die Ausrottung der Pocken. Weltweit wurden 2,4 Milliarden Impfdosen verabreicht. Die Kampagne gilt als eine der größten Erfolge der ganzen Medizingeschichte. Noch nie zuvor war es gelungen, eine Krankheit komplett auszurotten. 1972 ereignete sich in Hannover der letzte Pocken-Fall in Deutschland. 1980 erklärt die Weltgesundheitsorganisation die Pocken als offiziell ausgerottet, daraufhin wurde die weltweite Impfpflicht aufgehoben.

Diphterie hingegen ist noch nicht ausgerottet. Allerdings gab und gibt es gegen Diphterie auch keine flächendeckende Impfpflicht. Nach der Durchführung der ersten Schutzimpfung 1786 entstanden in den folgenden Jahrzehnten gegen immer mehr Krankheiten Impfstoffe. 1923 konnte die erste prophylaktische Impfung gegen Diphterie durchgeführt werden, 1936 erfolgte die Zulassung in Deutschland. Diphterie gehörte vor allem im 19. Jahrhundert zu den häufigsten Todesursachen bei Kleinkindern. In Oesselse wurde am 24.10.1951 an der Volksschule eine Diphterie-Scharlachschutzimpfung angeboten, wie einem Schreiben des Ordnungsamtes des Landkreises Hildesheim-Marienburg zu entnehmen ist. Den Erziehungsberechtigten der Kinder wurde eine „Aufforderung zur Impfung“ sowie ein Merkblatt zugestellt. Ohne Impfpflicht blieb es aber bei der Aufforderung und eine Impfweigerung konnte anders als bei der Pockenschutzimpfung nicht bestraft werden.

Gegen Polio gab es zu dieser Zeit noch keine Impfung. Die in den 1950er Jahren immer wieder seuchenartig ausbrechende und hochansteckende Viruserkrankung traf vor allem Kinder. Bei schweren Verläufen wurden Nervenzellen im Rückenmark und Gehirn befallen, was zu Lähmungen führen konnte. Am 16.8.1952 informierte das Ordnungsamt des Landkreises Hildesheim-Marienburg in einem Schreiben die Gemeinde Oesselse darüber, dass „die Erkrankungen an epidemischer Kinderlähmung allgemein angestiegen sind.“ Zur Verhütung der Weiterverbreitung der Krankheit und zur Bekämpfung derselben seien demnach „besondere Vorbeugungs- und Schutzmassnahmen erforderlich.“ So ordnete der Niedersächsische Sozialminister im Einvernehmen mit dem Niedersächsischen Kultusminister für das Land Niedersachsen unter anderem für sämtliche Schulen diverse Maßnahmen an, die uns heute während der Corona-Pandemie sehr bekannt vorkommen. Die eingangs zitierten Hygienebestimmungen wurden ebenso angeordnet wie Kontaktreduzierungen, etwa durch das Einstellen des obligatorischen Schwimmunterrichtes sowie den Verzicht auf Sportveranstaltungen und Schulausflüge. Man nahm an, dass sich die Kinderlähmung vor allem über sanitäre Anlagen aber auch durch Fliegen verbreitete. Demnach wurden durch das Kreisgesundheitsamt „sämtliche sanitäre Anlagen der Schulen einer genauen Überprüfung unterzogen“. Zudem war in allen Schulen „sofort eine Fliegenbekämpfung durchzuführen“. Allerdings mussten sich die Eltern wohl keine allzu großen Sorgen machen, denn: „Nach der Anzahl der im Kreise Hildesheim-Marienburg aufgetretenen Kinderlähmungs- und Verdachtsfälle liegt kein Grund zur Beunruhigung z.Zt. vor.“ Damit dies so bleibt, wurde ein „diszipliniertes Verhalten der Bevölkerung“ eingefordert.

 

Ab 1962 wurde in Westdeutschland gegen Polio geimpft. Der Impfstoff wurde den Kindern mittels Schluckimpfung mit einem Stück Würfelzucker verabreicht. Schnell zeigten sich erste Erfolge, die mit dem Motto "Kinderlähmung ist grausam, Schluckimpfung ist süß" aufrechterhalten werden sollten. Seit rund 15 Jahren gilt Europa als Polio-frei. Die Weltgesundheitsorganisation hofft nun, den Erreger in den nächsten Jahren auf dem gesamten Globus auszurotten.